ZUM STERBEN SÜSS
Wilson Saba, 2015
Nous sont les autres.
Wir sind am Ende.
Oltre la frutta.
Buna notg chantadurs e musicists.
Das Karussell hört bald auf, sich zu drehen. Das grosse heiss geliebte und gehasste Fest neigt sich dem Ende zu. Es war eigentlich das einzige, das ich je hatte. Es tut mir leid, es zu verlassen. Ich würde nur ungern darüber schweigen.
Ich sehe nur noch einen dunklen Horizont vor mir. Und niemand konnte mir sagen, was sich dahinter auftut.
Anderseits bin ich eine alte Frau, die vor einen Fernsehapparat gesetzt wurde und die «nichts versteht». Es ist einerseits komisch und andererseits tragisch, mich in diesem Zustand zu sehen, alleine in einer Ecke sitzend, in der Kantine eines Altersheimes in der Gegend von Viterbo. Der Raum ist voll von verblödeten Alten, die wie ich in Rollstühlen rund um einen grossen Tisch herum sitzen. Sie schauen sich an, ohne sich zu sehen, in absoluter Stille.
Manchmal stösst jemand einen dumpfen Ton aus, ähnlich einem Schrei eines Urvogels. Zeitweise mache ich das auch, und sofort erscheinen wütend die Krankenschwestern. Ich verstehe alles, aber ich kann mich nicht mehr verständlich machen.
Ich habe gehört, wie sie sich auf Rumänisch gegen mich verschworen haben und vom süssen Tod und von Schokolade erzählten. Sie trachteten nach meinem Leben.
Wen kümmert‘s. Seit mich vor zwanzig Jahren ein netter Herr, in den Sechzigern und im weissen Kittel, fälschlicherweise abschrieb, sehe ich das Leben mit anderen Augen; man kann es wohl eine Art von Erkenntnis nennen, ein Geistesblitz. Ich hatte immer schon wenig Interesse für das, was ausserhalb meiner Wohnung geschah. Mein Lebensraum reichte damals vom Schlafzimmer bis zum Badezimmer oder von der Küche bis ins Wohnzimmer.
Ja, ich erinnere mich an jenen Tag, als mein Herz fast zum Stillstand kam. Es hatte einen Sprung gemacht, die Geräusche wurden schwächer und verschwanden fast. Alles verlangsamte sich und ich begann neue Geräusche, Düfte und Gerüche wahrzunehmen; sogar Gefühle, die ich bis anhin nicht beachtet hatte. Ich begann mich an gewisse Dinge zu erinnern, von den ersten Umarmungen im Kindergarten bis zur Crème meiner Grossmutter. Den Geschehnissen um mich herum schenkte ich plötzlich mehr Aufmerksamkeit. Ich begann Visionen zu haben und schaute weit voraus, ohne an ein Morgen zu denken.
Nicht einmal heute kann die extreme Nähe des Todes meinen Eifer dämpfen Und diese verdammten Krankenschwestern wissen es. Ich hörte sie flüstern von einer „speziellen Schokolade“.
Was ich jetzt verstehen möchte, ist wie ich in diese Lage gekommen bin. Ich denke genau darüber nach, was ich immer vor meiner Nase hatte, um mir eine letzte Laune zu erfüllen, ohne zu urteilen und zu grollen. Ich nippe an einem Schwamm, der mit Wasser und Alchermes getränkt ist und ich geniesse das satte Grün eines Kastanienbaums, den ich jeden Morgen aus meinem Fenster sehe, dessen Äste vom einem mächtigen Wind, der dem Sturm vorausgeht, gepeitscht werden. Ich verstehe mich selber besser dank der Empfindlichkeit der Laubblätter.
Im Grunde hat sich alles verändert, als ich mich verändert habe. Als ich verstanden habe, dass ich in dieser Welt nur überleben kann, wenn ich das Spiel mitmache, indem ich die Wirkung der überlieferten Gemeinplätze anerkenne. Wer sich begnügt, der kann geniessen. Wenn wir alles haben, scheint es uns, dass wir uns nicht an anderes anpassen können, aber wenn uns nichts mehr übrig bleibt, schätzen wir jede Kleinigkeit.
Wenn ich die Ereignisse zurückverfolge, die mich zur Krankheit, zum Tod und zur Wiedergeburt führten, stelle ich fest, dass ich mich zu stark geschützt habe und übermässig besorgt um mich war. So falsch kann es also nicht sein, loszulassen, indem man an einer schönen schwarzen Schokolade nippt.
Alle meine Fehler kommen wieder hoch. Ohne mir ein Lächeln verkneifen zu können, muss ich an den „Reigen der Tabletten“ denken, zu dem es kam, weil ich mich bereits in meiner Jugend isoliert hatte, indem ich immer weniger ausging und eher Orte mit wenig Menschen aufsuchte. Ich sprach den anderen die Fähigkeit zu, zu verletzen und zu heilen, eine Fähigkeit, die in Wirklichkeit nur von mir aus kam und die jeden Tag den Dingen einen neuen Sinn gab. Damals sass ich zu oft am Schreibtisch und bewegte mich immer weniger. Ich erinnere mich, dass ich mit einer Tablette gegen einen Hexenschuss angefangen habe, die dann das berüchtigte Magenbrennen verursacht hat. So nahm ich eine Beruhigungstablette, die mir aber Koliken und die Ruhr brachte. Ich antwortete darauf mit einem Antidiarrhoikum, mit einem Antispastikum, die in mir aber eine verfluchte Blutvergiftung erzeugten. Darauf schluckte ich ein schwächendes und immunsuppressives Abführmittel. Dann nahm ich regelmässig verschiedene Vitaminpräparate, so dass ich am Schluss Allergien auf alles entwickelte und den Überblick verlor, und in eine noch grössere Depression stürzte, gegen die ich begonnen hatte, immer grössere Dosen von Antipsychotika und Antidepressiva einzunehmen.
Vor mehr als zwanzig Jahren bin ich gestorben und wiederauferstanden.
Und alles geschah in einem Augenblick.
Jetzt hat mein Leben einen anderen Klang und einen anderen Geschmack.
Es war nur ein Augenblick …
und nur ein weiterer ist geblieben, nach dem ersten Schluck Schokolade …
Dieser
Übersetzung: Luigi Bier & Astrid Schmidlin
PERONOSPERA / MEHLTAU
von Cristiana Alicata
LUNGO IL SENTIERO / DEM WEG ENTLANG
von Maria Rosaria del Ciello
DOLCE DA MORIRE
von Wilson Saba