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SCHNEE von Paolo Piccirillo

SCHNEE

Paolo Piccirillo, 2015

 

Brennendes Licht bricht in das Zimmer. Es ist so stark, dass sich die Augenlider des Kindes öffnen und seine Träume unterbrechen. Und die Dunkelheit des Zimmers verwandelt sich in einen hellen, weissen Kegel. Der Kleine reibt sich die Augen und schaut zum Fenster hin, von wo das Licht her kommt. Das leuchtende Weiss, das in sein Zimmer eingedrungen ist, ist aber nur ein unbedeutendes Sandkorn, es ist höchstens ein Aufblitzen gegenüber der grossen Feuersbrunst, die draussen lodert.

Er schüttelt die Bettdecke weg, gierig rennt er zum Licht, sein Herz pocht vor Neugierde.

Kaum hat er das Fenster geöffnet, bläst ihm ein eisiger Wind entgegen, aber er zieht sich nicht zurück. Verzückt hebt er den Blick und ist wie verzaubert: über ihm gibt es nicht mehr nur einen, nein zehn, zwanzig, dreissig, vierzig Monde. Alle sind voll, leuchtend und verlockend. In der Stadt stürzen sich alle Leute trotz der Kälte auf die Strassen, einige lachen, andere weinen vor Freude, andere wieder rennen davon oder verschanzen sich in ihren Häusern. Der Junge möchte sich denen, die glücklich sind, anschliessen. Ganz aufgeregt begibt er sich in das Zimmer der Eltern, um sie zu wecken und sich gemeinsam mit ihnen die Monde anzuschauen. Doch das Ehebett ist zugedeckt und unberührt. Leer sind auch Küche und Wohnzimmer, das Haus ist verlassen. Er ruft nach Mutter und Vater, aber niemand antwortet. Beunruhigt ruft er lauter, aber seine Stimme hallt nur wieder im Gewölbe der Küche, im Wohnzimmer und im Badezimmer, niemand antwortet. Die einzigen Stimmen, die er vernimmt, sind diejenigen, die von der Strasse kommen. Dort schreit jemand, wird dabei immer lauter und rennt davon. Der Junge tritt besorgt auf den Balkon der Küche hinaus, schaut hinauf zum Himmel und sieht jetzt, dass die Monde hinunterfallen wie feindliche Raketen, die auf die Erde stürzen.

Er aber fürchtet nicht die fallenden Monde, weil er genau weiss, was geschehen ist. Sein Wunsch hat sich erfüllt. Am Vorabend hat er für sich erhofft, dass Schnee fallen möge, den er nie gesehen hatte. Koste was es wolle, hatte er sich gesagt, auch wenn er allein auf der Welt bleiben sollte; deshalb hört er auf seine Eltern zu rufen. Und siehe da, die Monde fallen vom Himmel und werden immer kleiner, bis sie zu kleinen leuchtenden Schneebällen werden, die am Strassenrand
liegen bleiben und Rom in ein wunderbares Licht tauchen. Der Junge geht nun auf die Strasse. Die Menschen rund um ihn haben sich beruhigt, sie lachen glücklich. Über ihren Köpfen tanzen Tausende von Monden am Himmel und am Boden. Auf den Strassen breitet sich allmählich ein leuchtender Belag aus. Der Junge ist allein, etwas steckt in seinem Hals, das er Monde und keine Tränen mehr.

Übersetzung: Luigi Bier & Astrid Schmidlin

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